Unser Fokus im November

Nachricht 05. November 2024

Schön scheitern

oder: die Anmut des Stolperns

Zeige mir einen Menschen, der im Leben noch nie gescheitert ist…

Jedes Kind lernt greifen, laufen, Fahrrad fahren, in dem es ausprobiert, scheitert, wieder probiert, so lange, bis es klappt. Bewundernswert eigentlich, diese Ausdauer, diese Unermüdlichkeit, diese Geduld angesichts so vieler Momente, in denen es nicht auf Anhieb klappt. Ich sehe die freudig strahlenden, geradezu triumphierenden Augen meines Sohnes, nachdem es ihm gelang, sich eigenhändig an der Luke der Waschmaschine hochzuziehen, um erstmalig aus ganz eigener Kraft auf seinen ganz eigenen Beinen zu stehen. Was für ein Gewinn. Und wie viele Versuche lagen da bereits hinter ihm, die „missglückt“ waren… Aber waren sie das wirklich? Jeder einzelne Versuch, jedes Aufrappeln, jedes Umgreifen, jeder erneute Ansatz brachte ihn seinem Ziel näher: die Technik verfeinerte sich, Muskeln wurden trainiert, die Sicherheit im Tun wuchs. Niemand hat ihm gesagt oder gezeigt, wie es geht, es gab keine „Anleitung in 5 Schritten zum Erfolg“ und keine Durchhalteparolen. Er hat ganz selbstverständlich jeden Fehlversuch hingenommen, ihn nicht negativ bewertet oder sich entmutigen lassen. Und am Schluss stand er da, dieser kleine, wertvolle Mensch: das Ergebnis all seiner Erfahrungen.

Irgendwann im Leben ändert sich das. Wodurch genau, weiß ich nicht zu sagen. Möglicherweise beginnt es, wenn Kinder miteinander verglichen werden, Leistungen gefordert sind und Ehrgeiz geschürt wird. Dann empfinden wir uns nicht mehr als uneingeschränkt wertvoll.

Ein 5-jähriges Mädchen, welches wunderschöne bunte Bilder malte, sah zu, wie eine erwachsene Person ein neues Bild anfing. Sie versuchte, es ebenso zu machen, war jedoch sehr unzufrieden mit dem Ergebnis. Sie wurde ärgerlich mit sich selber, schmiss den Stift hin, zerknüllte ihr Papier. Sie war an ihrem Anspruch gescheitert, zog sich zurück und spielte den restlichen Tag nicht mehr. Sie setzte sich in eine Ecke, zog die Knie an und schmollte.

Scheitern am eigenen Anspruch oder an fremden Erwartungen fühlt sich verletzend an, schlägt uns Wunden, macht ärgerlich bis wütend oder entmutigt, klein, hilflos und beschämt. Über eigene Erfolge zu sprechen, ist einfach, es lässt sich gut im Glanz baden. Nicht jedoch in Scham… das ist eher wie einsinken in einer Schlammpfütze. Wir lernen, unser Scheitern zu verbergen, um nicht beschämt dazustehen.

Was wäre jedoch, wenn wir unser Scheitern weiterhin als wertvoll betrachten könnten? Als Summe an Erfahrungen, die uns Sicherheit und Standfestigkeit gibt? Wenn wir es nicht verbergen müssten, sondern mit Staunen und Stolz und liebevollem Blick auf die Person schauen, die wir dank all unserer Erfahrungen geworden sind?

Die japanische Kunst „Kintsugi“ führt uns diesen liebevollen Umgang mit Bruchstellen vor Augen. Kintsugi ist eine von langer Tradition geprägte japanische Methode, zerbrochene Keramik zu reparieren. Das Besondere: Kintsugi versucht nicht, die augenscheinlichen Makel der Reparatur zu verbergen, vielmehr stellt es diese durch die Verwendung von Gold- oder Silberpigmenten im Lack in den Vordergrund – und schafft so eine völlig neue Schönheit und Wertschätzung des ursprünglichen Objekts. Die einst gebrochenen Stücke werden glatt und geschmeidig zusammengefügt und ergänzen sich zu einem neuen Ganzen, das in den meisten Fällen der Schönheit des Originals in nichts nachsteht. Das Wichtigste an Kintsugi jedoch ist nicht die physische Erscheinung des eigentlichen Objekts. Wichtig sind die Schönheit und die Bedeutung, die der Betrachter durch das Objekt erfährt.

Auch in unserer Kultur gibt es solche heilsamen Rituale. Im christlichen Kirchenjahr ist der Buß- und Bettag fest verankert. Büßen und beten klingt jetzt sehr martialisch: vor meinem geistigen Auge tauchen Menschen auf, die sich selbst geißeln und Schmerzen zufügen, um sich von ihren Sünden zu reinigen. Das sind mittelalterliche Methoden. Der Kern der Aussage jedoch ist nicht ganz verkehrt. Sich mit seinen Fehlern und seinem Scheitern auseinanderzusetzen, ist nicht einfach. Eigene Bruchstellen anzusehen kann schmerzhaft sein und Trauer auslösen. Wird diese Trauer dauerhaft verdrängt, nehmen wir einen wichtigen Teil unserer Persönlichkeit nicht wahr. Dies kann im schlimmsten Fall zu emotionaler Unausgeglichenheit und psychosomatischen Symptomen führen. Es kann also heilsam sein, sich damit zu beschäftigen.

Das Büßen meint heute: seine Fehler und das eigene Scheitern in den Blick zu nehmen. Nicht, um sich Schmerzen zuzufügen, sondern um die Bruchstellen sichtbar zu machen, sie als wertvoll anzuerkennen und ihnen, wie im Kintsugi, ihre Daseinsberechtigung zuzusprechen. Und im Beten liegt die Besinnung auf die bedingungslose Liebe Gottes, dieses Schöpfungsfunkens, der Ursprung unserer Seelen und all unserer Talente und Sehnsüchte ist. Wenn es schwer ist, dir deine Fehler selbst zu vergeben, darfst du sicher sein: Gott hat dich gewollt, mit allem, was dich ausmacht. Als ganze Person, als vollständiger Mensch, mit der Summe deiner Erfahrungen. Das ist es, was man „Gnade“ nennt. Der Buß- und Bettag ist also ein goldenes Pflaster für unsere Seele.

Einen besonderen Jugend-Gottesdienst mit Band gibt es in diesem Jahr am Buß- und Bettag in der

Bethlehemkirche in Linden

Am Mittwoch, 20.11.2024

Um 18:00 Uhr

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